Zum Ende der „Opfertod-Theologie“
Sie waren ihm zum Teil von weither gefolgt. Sie hatten ihm vertraut. Ihre ganze Hoffnung hatten sie auf ihn gesetzt. Wie einem König hatten sie ihm zugejubelt, als er auf einem Esel durch die vor Jerusalem liegenden Wohngebiet geritten war.
Mit ihren Kleidern als Teppichersatz hatten sie seinen Weg geschmückt, mit Palmwedeln ihm zu gewunken und „Hosianna“ gerufen, „Hosianna dem Sohn Davids“. Er, der Wanderprediger und Wunderheiler aus Nazareth, war ihr großer Hoffnungsträger.
Er wird die Wende bringen für sie. Mit ihm wird eine neue Zeit für sie anbrechen, eine, die genauso glücklich sein wird wie die damals zur Zeit des legendären König Davids. Er war beliebt bei ihnen, dem einfachen Volk, weil er auf ihrer Seite stand; weil er sich nicht zu gut dafür war, sich mit ihnen abzugeben und mit ihnen über Gott zu sprechen, ja sogar um mit ihnen zu essen und zu trinken.
Und weil er ganz offensichtlich ihre Fragen und Sorgen verstand, besser als ihre Priester und Schriftgelehrten. Und weil er so zu ihnen sprach, dass sie ihn verstehen konnten und das, was er ihnen da so alles über Gott sagte. Freudige Aufbruchstimmung herrschte bei ihnen überall, wo er auftauchte.
Erst wenn wir uns die großen Erwartungen dieser Menschen damals an Jesus bewusst machen, dann werden wir so richtig verstehen können, welch ein Schock, welch unglaubliche Enttäuschung es für sie gewesen sein muss, davon zu hören oder es gar direkt selbst mitzuerleben zu müssen, dass ihre „Lichtgestalt“ von den Mächtigen im Lande festgenommen und öffentlich brutalst gefoltert wurde, bevor sie ihn elendiglich am Kreuz, man kann schon sagen, verrecken ließen.
Das machte sie fassungslos. Konnte so etwas Gottes Wille sein? Oder hatten sie sich in Jesus getäuscht? War er doch nicht der gewesen, für den sie ihn gehalten hatten?
Sie wollten verstehen, wieso das alles so passieren musste, und suchten dafür nach Deutungen in ihren heiligen Schriften, um dem furchtbaren Geschehnis irgendeinen Sinn abringen zu können.
Und da fanden sie, so erfahren wir aus den neutestamentlichen Texten, so manch scheinbar Erklärendes:
- Zum Beispiel, und das lag ihnen im Zusammenhang mit dem Passahfest nicht sonderlich fern, das Bild vom Passahlamm, durch dessen Blut am Türpfosten die Israeliten seinerzeit in Ägypten verschont geblieben waren. War Jesus nicht so etwas wie ein menschliches Passahlamm zur Befreiung aus der Sklaverei der Sünde? (Hierzu ein Hinweis: Auch wenn dies in der christlichen Tradition oft ganz anders klingt bzw. ganz andere Assoziationen bei uns weckt: Das Passahlamm war nie als Opferlamm für irgendeine Sünde oder Schuld gedacht im Sinne von „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, …!)
- Oder der Bundesschluss Gottes mit seinem Volk Israel am Berg Sinai, der mit dem Blut von Opfertieren besiegelt wurde. War Jesu Blut am Kreuz nicht doch nötig gewesen für einen neuen Bundesschluss mit Gott?
- Oder war Jesus der Mensch gewordene Sündenbock, der nach dem Gesetz des Mose einmal im Jahr, am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, beladen mit den Sünden des Volkes in die Wüste gejagt wurde, wodurch er dem sicheren Tod ausgeliefert wurde, um so das Volk von seinen Sünden zu befreien?
- Oder sie dachten vielleicht an den Opferkult im Tempel von Jerusalem, wo man Gott für auf sich geladene Schuld und Sünde Tiere opferte. War Jesu grausamer Tod das notwendige Opfer, um Gott gnädig zu stimmen?
- Ein anderes Bild nahm der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief auf, wo er davon spricht, dass wir Menschen durch Jesu Tod „losgekauft“ wurden von der Versklavung durch die Sünde, also das Motiv des Freikaufs eines Sklaven.
- Oder indem Paulus an anderer Stelle sagte, dass Jesus durch seinen Tod für uns Fürsprecher vor Gott, unserem Richter, ist und durch seinen stellvertretenden Tod von ihm für uns den Freispruch erwirkt hat – also eine eher juristische Argumentationsweise.
- Oder sie kannten die Lieder vom leidenden Gottesknecht des Jesaja, die die Motive von Ablehnung, Anfeindungen, Folter und Tod aufnehmen, die demjenigen drohen, der sich bedingungslos für Gott einsetzt.
- Oder schließlich dieser Psalm 22 „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, der das gesamte Kreuzigungsgeschehen widerzuspiegeln scheint, obwohl er ca. 600 Jahre vor Karfreitag verfasst wurde.
Es gäbe noch weitere mögliche, vermeintlich dem für sie damals sinnlosen Kreuzigungsgeschehen Sinn gebende Deutungsmotive aus alttestamentlichen Texten. Aber die Genannten sollen genügen, um uns zu verdeutlichen: All diese Antworten und Bilder waren Versuche der Menschen damals, eine in ihren heiligen Schriften begründete Erklärung zu finden für den ihnen absolut unerklärlichen, sie ins tiefste erschreckenden, für sie absolut sinnlosen Kreuzestod ihres Hoffnungsträgers. Ich könnte auch sagen, sie waren „Hilfskonstruktionen“, um für sie Unerklärliches erklären, um für sie Sinnlosem einen Sinn geben zu können. Hilfskonstruktionen, die letztlich alle auf ein und dieselbe Deutung hinauszulaufen schienen: Jesu Tod am Kreuz geschah als Opfer für unsere Sünden. Oder anders gesagt: Gott hat seinen Sohn am Kreuz geopfert zur Vergebung unserer Sünden. Denn sonst gäbe es für uns keine Vergebung. Der Kreuzestod Jesu – ein Opfertod.
Und der Apostel Paulus gab diesem Denken durch seine Interpretation des Kreuzestodes Jesu seine „apostolische“ Autorität.
Lange Zeit gab es über diese „Lösung“, also über die „Opfertod-Theologie“ und über sie hinaus kaum theologisches Nachdenken, weil es unmöglich, ja ketzerisch erschien, sie überhaupt in Frage zu stellen.
Ich bin froh, dass in den letzten Jahren bei vielen ein anderes, neues Nachdenken über den Kreuzestod Jesu eingesetzt hat.
Weil die Opfertod-Theologie eigentlich, wenn wir genauer hinschauen, der Verkündigung Jesu gar nicht entspricht, ja ihr vielmehr sogar widerspricht.
Wie ich zu solch einer Behauptung komme?
Für mich macht uns Jesus das Zentrum seiner Verkündigung am eindrücklichsten sichtbar und erkennbar im Gleichnis vom verlorenen Sohn.
Ein Sohn verlässt dort seinen Vater in der Meinung, ohne ihn besser durchs Leben zu kommen und scheitert damit kläglich. Er erkennt dies, gesteht sich dies ein und entscheidet sich schweren Herzens dafür, zum Vater zurückzukehren, wobei er sich intensiv überlegt, wie er sich beim Vater entschuldigen will. Als der Vater ihn von Ferne kommen sieht, eilt er ihm entgegen und noch bevor der Sohn sich entschuldigen kann, nimmt er ihn voller Liebe in den Arm, ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne jegliche Forderung auf Wiedergutmachung, einfach nur: „Es ist gut, dass Du wieder bei mir bist!“
Das war das Gottesbild, für das Jesus gelebt, geworben, gepredigt hat und für das er letztlich auch gestorben ist: Für den uns bedingungslos liebenden Gott, dessen Liebe uns dazu befähigen will, dann wiederum auch unsererseits einander liebevoll anzusehen und anzunehmen – wie auch uns selbst.
Solch ein liebender, uns Menschen trotz all unserer Fehler und Schwächen annehmender Gott braucht keine Opfer und muss noch viel weniger seinen Sohn dafür opfern, um uns „unsere Sünden“ vergeben, also um uns wieder annehmen zu können, wenn wir uns von ihm entfernt haben. Denn das kann er auch so – einfach aus Liebe!
Ein weiteres Indiz für diese Behauptung: Als Jesus die Jünger mehrfach auf die Möglichkeit seines Todes in Jerusalem hinwies, hat er nie davon gesprochen, dass dies „zur Vergebung der Sünden“ geschehen solle.
Und letztlich, und das ist für mich der schlagendste Beweis, besteht ein unauflösbarer Widerspruch zwischen „Gnade“ und „Opfer“. Ein gnädiger Gott braucht keine Opfer! Gerade darin erweist sich ja seine Gnade!
Weshalb aber ist Jesus denn dann am Kreuz gestorben?
Weil er nicht um jeden Preis leben, aber um jeden Preis lieben wollte.
Weil er sich auch durch Todesdrohungen nicht davon abbringen ließ, die Botschaft der Liebe als Basis menschlichen Vertrauens Gott und den Menschen gegenüber zu predigen und zu leben.
Das hat er damals gelehrt, dafür hat er geworben, dazu hat er zu allen Zeiten bis heute Menschen in seine Nachfolge gerufen mit dem Zuspruch „Du bist geliebt bei Gott“ und dem Anspruch „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“.
Und noch eines zum Schluss:
Liebe kann vieles und viele verändern. Sie ist stark, unendlich stark. Aber immer wieder zeigt es sich in unserer Welt auch, dass liebevolle Menschen denen, die die Macht der Willkür, der Herrschsucht, der Habgier, des übersteigerten Egoismus und des Hasses favorisieren, äußerlich unterlegen sind, ja sogar unter ihnen zu leiden haben, weil es ihnen ihre innere Haltung unmöglich macht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Und genau das hat Jesus in letzter Konsequenz bis hin ans Kreuz deutlich gemacht. Weil er um jeden Preis lieben wollte, koste es ihn, was es wolle, ja sogar sein Leben. Gleichwohl zeigt seine Wirkungsgeschichte aber auch, dass nicht jene scheinbar Mächtigen in unserer Welt das letzte Wort haben, sondern die ihrer Liebesfähigkeit wegen scheinbar Schwachen.
Ergänzend zu diesen Gedanken empfehle ich meine Predigt zum Thema „Sünde“.
Die Evangelien berichten, dass Jesus von Anfang an gemobbt worden ist, ja, sie stellen einen vollendeten – eben „erfolgreichen“ – Mobbingverlauf dar. Diesen von den Mobbern als Unrat entsorgten Menschen erweckt Gott auf! Gott will nicht den Tod dieses Menschen, sondern sein Leben, das ist der Beweis der Botschaft Jesu von der bedingungslosen Liebe. So kann man leben, in ihr kann man leben. Hier ist absolut kein Platz für Sühne, für Strafe, für Opfer. Wenn Opfer, dann das Ende alles Opfertums.
Die Tatsache, dass Jesus gemobbt worden ist, ist nicht vereinbar mit einem Sühnetod!