„Dem Frieden dienen“ – ja, aber wie?
Gedanken in Zeiten des Ukraine-Krieges
Wer nur den lieben Gott lässt walten, und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten.
Vier Bilder habe ich da vor Augen:
- eine zeitgenössische Darstellung plündernder und brandschatzender Horden aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
- das Eingangstor zum KZ Auschwitz mit der zynischen Überschrift „Arbeit macht frei“
- das Foto von einer Straße in Butscha voller Trümmer und voller Leichen von Menschen, die einfach nur deshalb, weil sie auf der Straße unterwegs waren, wie Treibwild erschossen worden sind
- das im Schmerz versteinerte Gesicht eines Kurden, der bei dem furchtbaren Erdbeben vor wenigen Wochen seine gesamte Familie verloren hat.
Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten.
Georg Neumark hat die Verse dieses Liedes in der Zeit und unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges verfasst.
Er mag ja wunderbar erhalten geblieben sein. Aber was war mit den 9 Millionen Toten, die dieser furchtbare Krieg gefordert und auch erhalten hat. Wie viele von ihnen hatten auch „alle Zeit auf ihn gehofft“?!
Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten.
Am 27. Januar gedachte die Welt der Befreiung des KZs Auschwitz durch die Rote Armee vor 78 Jahren. Für die etwa 8.000 übrig gebliebenen Inhaftierten bedeutete dies die Freiheit. Nur, vielen von ihnen konnte nicht mehr geholfen werden. Sie starben an den Folgen von Folter, Erschöpfung, Hunger oder Krankheit. Für 7 Millionen Juden kam diese Befreiung jedoch zu spät. Und dann die Frage: „Kann man nach Auschwitz noch vom „lieben“ Gott sprechen?
Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten.
Wir konnten Bilder von einem Kind in einem Bericht aus der Erdbebenregion sehen, das wie durch ein Wunder nach 10 Tagen lebend aus den Trümmern geborgen worden war. Aber wie vielen Menschen haben dieses furchtbare Erdbeben und nachfolgenden Krankheitswellen nicht überlebt! Sie wurden nicht „wunderbar erhalten“.
Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten.
Die Opfer des von Wladimir Wladimirowitsch Putin begonnenen, in höchstem Maße grausamen und von Moskaus Metropolit Kyrill I. abgesegneten Angriffskrieges gegen die Ukraine überschreiten mittlerweile bereits die Zahl von ¼ Millionen. Skrupellos verheizt Putin weiterhin zur Erreichung seines Ziels, die Ukraine auszulöschen, die junge Generation seines Volkes.
Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten.
Klingt das da nicht wie Hohn?!
Vier Bilder des Grauens und dann dieses wunderschöne Lied über das Vertrauen zum lieben Gott – wie soll das zusammenpassen?!
Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.
Passt das, was wir da soeben wohlklingend und gut meinend gesungen haben, überhaupt zu der Realität, in der wir leben?
Ist die Welt, in der wir leben, nicht doch ganz anders und unser Glaube letztlich nicht doch nur ein frommer Selbstbetrug?
Ich kann gut verstehen, dass Menschen angesichts des unendlichen Leids auf dieser Welt große Schwierigkeiten haben, daran zu glauben, dass es Gott, und noch dazu den lieben Gott, überhaupt gibt.
Und dennoch glaube ich, dass das stimmt: Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.
Ich glaube, dass sie alle, ob natürlich oder gewaltsam zu Tode gekommen, von Gott nicht verlassen sind – genauso wenig die diejenigen, die um sie trauern.
Denkt bitte nicht, ich würde es mir mit dieser Antwort zu leicht, zu einfach machen! Ich nehme nur ernst, dass wir alle Geschöpfe Gottes sind, dass unser Leben aus seiner Hand kommt und in seiner Hand bleibt in Zeit und in Ewigkeit.
Und das bedeutet: Um das Wohlergehen unserer Toten brauchen wir uns keine Gedanken, keine Sorgen mehr zu machen. Denn er verlässt sie nicht. Tod, egal, wie er sich ereignet, ist eben gerade kein Zeichen dafür, dass ein Mensch von Gott verlassen ist.
Unser großes Problem ist es, dass wir den Tod immer nur aus der Sicht der Diesseitigkeit und der Zurückbleibenden sehen – mit all den Gefühlen, die wir dabei haben. Dass wir nicht verstehen können, weshalb dieser geliebte Mensch gerade jetzt und gerade so hat sterben müssen. Dass es uns schmerzt, dass wir ihn hergeben, loslassen müssen. Dass sein Tod unsere gemeinsamen, aber auch unsere eigenen Pläne durchkreuzt. Und dass dieser Mensch für uns jetzt einfach nicht mehr erreichbar ist.
Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten.
Aus der Sicht der Diesseitigkeit wird bei uns „erhalten“ sehr schnell auf „das diesseitige Leben erhalten“ reduziert. Aber Gott erhält uns unser Leben – und zwar hier wie dort.
Und wenn wir nun das Jenseits getrost in seinen Händen lassen dürfen mit all denen, die uns dorthin vorausgegangen sind, dann können wir uns ganz auch dem Diesseits zuwenden.
Ihn walten zu lassen heißt dann konkret für uns:
Ihm zu vertrauen, darauf zu vertrauen, dass wir, egal was kommen mag, nicht aus seiner Hand fallen.
Not, Traurigkeit, Ungemach, Kreuz, Leid – sie, so der Dichter, gehören zu unserem Leben dazu. Das gilt es erst einmal zu akzeptieren; und dann ist es für uns nur noch wichtig zu wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen.
Sorgen und Zweifel machen uns alles nur noch viel schwerer. Das stimmt. Gottvertrauen hilft uns hingegen, zu Gelassenheit, zu innere Ruhe, zu Trost und zu Hoffnung zurück zu finden. Gottvertrauen hilft uns, Schweres, das uns das Leben auferlegt, zu tragen. Gottvertrauen hilft uns, das, was wir nicht verstehen können, auszuhalten. Gottvertrauen hilft uns aber auch, mutig Farbe zu bekennen, wenn es gilt, Gottes Willen in dieser Welt Gehör zu verschaffen.
Wer nur den lieben Gott lässt walten, kann nicht mehr zulassen, dass Menschen so walten, wie sie gerade wollen oder für sich selbst für richtig halten, erst recht nicht, wenn dies eindeutig dem Willen Gottes widerspricht.
„Wer nur den lieben Mensch lässt walten“ – das Ergebnis davon waren u.a. eben der Dreißigjährige Krieg mit 9 Mio. Toten, der 1. und der 2. Weltkrieg mit 65 Mio. Toten, Auschwitz, Serbien, Ruanda, Afghanistan, Irak, Tschetschenien, Syrien, Ukraine und wer weiß, was noch alles nachkommen mag?!
Das Ergebnis gottlosen, menschenverachtenden Machtstrebens ist noch dazu weltweit Hunger, Ungerechtigkeit, Unterdrückung.
„Wer nur den lieben Mensch lässt walten“ – nein, das dürfen wir nicht zulassen. Um Gottes Willen nicht!
Was aber dann und wie denn?
EG 369, 7
Sing, bet und geh auf Gottes Wegen!
Das heißt, Gott walten lassen, durch seine guten Mächte wunderbar geborgen; und eben auch durch uns, durch unser von ihm gewolltes und gefordertes Engagement für seine Welt bis hin zu unserer Bereitschaft, Angegriffenen beizustehen bei ihrem Bemühen, sich zu verteidigen, und wenn es sein muss mit entsprechenden, für sie notwendigen Waffen. Dies zu sagen hätte ich früher für mich nie für möglich gehalten! Aber die zynische Alternative dazu, und das möchte ich denen entgegenhalten, die fordern, Waffenlieferungen sofort einzustellen, wäre, so schlimm dies auch klingen mag, die Aufforderung: „Lasst Euch umbringen! Denn Gott verlässt Euch nicht!“
Frieden muss auf jeden Fall das Ziel unserer Bemühungen sein, und nichts, was ihm dienen könnte, darf davon ausgeschlossen werden! In dieser Frage, in der auch die Botschaften der diesjährigen Ostermarschierenden uneinheitlich sind, darf es niemals um ein Entweder – Oder, sondern muss es immer um ein Sowohl – Als Auch gehen!
Es kann nicht der Gottes Wille sein, dass wir „um des lieben Friedens willen“ zulassen sollen, dass ein skrupelloser Ex-Geheimdienstoffizier wehrlose und verteidigungsunfähige Menschen massenweise kaltblütig quälen und umbringen lässt.
Vielmehr: Sing, bet und geh auf Gottes Wegen! Verricht das Deine nur getreu!
Wir sollen tun, was in unserer Macht steht, um dem Frieden zu dienen, aber nicht als Phantasten, die die Realität nicht sehen oder sich nicht als wahr eingestehen wollen, sondern eben auch als solche, die in der Konsequenz ihres Glauben dazu bereit sind, um der Leidenden willen mit ihrem Vorgehen Schuld auf sich zu laden, um zu verhindern, dass noch viel größere Schuld geschieht.
Die Nachfolge im Glauben ist in unserer Zeit oft alles andere als einfach.
Aber auch auf ihr liegt die Verheißung:
Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.