Im 3. Jahrhundert in der Zeit der Christenverfolgungen lebte in Kleinasien in der Nähe der heutigen Stadt Izmir ein reicher Kaufmann. Er hieß Dioskur und hatte eine wunderschöne Tochter, die hieß Barbara. Er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt. Er behütete sie liebevoll, war doch die Mutter Barbaras früh gestorben. Auch Barbara liebte ihren Vater zärtlich. Wenn Dioskur verreisen musste, brachte er Barbara in einen Turm, damit sie nicht mit Menschen zusammenkam, die ihm nicht gefielen oder die Barbara schaden konnten. Nur eine Dienerin und ein Lehrer betreuten sie. Als Dioskur nun wieder einmal mit seinen Karawanen viele Wochen unterwegs war, lebte Barbara in ihrem Turm. Doch es war alles anders als sonst. Sie erfuhr zum ersten Mal etwas über Jesus. Tag für Tag lauschte sie den Jesusgeschichten, und Tag für Tag wurde sie fröhlicher. Ja, teilen mit anderen, das wollte sie auch. Sie hatte doch so viel von allem. Freundlich und hilfsbereit sein zu den Menschen, die einsam und traurig waren, das konnte sie auch. Sie hörte, dass Gott Jesus nicht im Tod gelassen hatte. »Das ist ein großer Gott«, dachte Barbara, »er schenkt neues Leben nach dem Tod. Da brauche ich gar keine Angst mehr vor dem Sterben zu haben.« Da ließ Barbara sich taufen und wurde Christin. Sie konnte es kaum erwarten bis ihr Vater zurückkam, um ihm alles zu erzählen.
Aber der Vater freute sich nicht. Im Gegenteil, sein Gesicht wurde ganz finster. Er wurde zornig. Er war kein Christ. Und außerdem hatte er auf seiner Reise einen wohlhabenden Mann für Barbara ausgesucht. Den sollte sie heiraten. Aber der war auch kein Christ und wollte auch keine Christin heiraten. Dioskur wusste außerdem, dass der römische Kaiser die Christen hasste, sie verfolgte und töten ließ. Er flehte Barbara an, nicht als Christin zu leben, sondern den jungen Mann zu heiraten. In seinem Zorn schrie er sie an: »Ich selber werde dich sonst verraten, dass du eine Christin bist.« Aber Barbara ließ sich nicht einschüchtern: »Ich fürchte mich nicht zu sterben. Denn ich weiß: Gott schenkt mir ein neues Leben.«
Ganz große Liebe kann zu ganz großem Hass werden. So geschah es auch mit Dioskur. Er ließ seine Tochter in ein dunkles Gefängnis einsperren. Es war kalter Winter. Auf dem Weg dorthin verfing sich ein Kirschenzweig, der vom Baum abgebrochen war, in Barbaras Kleid. Barbara nahm ihn mit und stellte ihn in einen Becher. Sie teilte mit ihm das Wasser, das man ihr im Gefängnis zu trinken gab. An dem Tag, an dem Barbara zum Tod verurteilt wurde, geschah etwas Wunderbares. Der Kirschzweig begann zu blühen, mitten im Winter. Als Barbara zur Hinrichtung hinausgeführt wurde, schaute sie den blühenden Zweig an und sagte: »Es schien mir, als ob du tot warst. Aber nun bist du aufgeblüht zu neuem Leben. So wird es auch mit mir geschehen. Wenn ich sterbe, werde ich verwandelt zu neuem, blühenden Leben.« (Quelle traditionell, unbekannt)
Die Legende von der Heiligen Barbara, einer frühchristlichen Märtyrerin, also einer Frau, die in der Zeit der Christenverfolgungen, so erzählt es zumindest diese Geschichte, für ihren Glauben hingerichtet worden ist. Ob sie tatsächlich je gelebt hat oder nicht, lässt sich nicht mehr nachweisen. Aber die Legende über sie war im späten Mittelalter weit verbreitet, wobei ich dazu noch sagen muss, dass ich im Internet weitaus grausamere und blutrünstigere Versionen dieser Legende gefunden habe als die oben stehende.
Vielleicht seid Ihr ein wenig verwundert darüber, von einem evangelischen Pfarrer als Predigttext eine „katholische“ Heiligenlegende zu hören.
Nun, immerhin ist in diesen Tagen wieder der 4. Dezember, der Barbara-Tag, jener Tag, an dem traditionell quer durch die Konfessionen hindurch die Barbara-Zweige geschnitten werden. Viele schwören darauf, dass es nur Kirsch- oder Forsythien-Zweige sein dürften, andere nehmen dazu jedoch auch Apfel-, Pflaumen- oder Mandel-Zweige. In der Wärme in eine Vase gestellt und gut mit Wasser versorgt werden diese Zweige 20 Tage später, also am Heiligen Abend Blüten tragen, mitten in der üblicherweise kalten Zeit, in der die Bäume und Sträucher, von denen sie genommen sind, wie tot wirken. Blüten, Zeichen neu aufbrechenden Lebens mitten im kalten Winter.
Aber auch aus sich heraus halte ich diese Heiligenlegende für „predigttextfähig“. Als Gründe dafür möchte ich aus dieser Geschichte vier Motive aufnehmen mit folgenden Überschriften: Eine Augen öffnende Botschaft – Eine selbstbewusste junge Frau – Der Bruch mit der Tradition – Ein gebrochener Vater.
Eine Augen öffnende Botschaft
Die Botschaft Jesu öffnet der Barbara die Augen, für sich selbst, aber auch für die Menschen um sie herum. Durch diese Botschaft entdeckt sie, wie wichtig andere Menschen für sie und ihr Leben sind und wie wichtig andererseits sie für diese anderen Menschen und deren Leben sein kann. Die im Elfenbeinturm ihres Vaters behütete und dadurch von ihrer Umwelt zugleich isolierte junge Frau beginnt durch diesen Glauben sich aus ihrem Schutzgefängnis zu befreien und selbstständig zu machen. Indem sie nach außen zu blicken lernt, lernt sie zugleich, sich selbst ganz neu wahrzunehmen, entwickelt sie ein Selbstwertgefühl, das Gefühl, nicht erst durch andere, durch deren Anerkennung, durch den Vater etwas wert zu sein, sondern schon allein dadurch, dass es sie gibt, dass sie als Geschöpf Gottes „ist“.
Eine selbstbewusste junge Frau
Barbara – und immerhin geht es ja um eine Geschichte aus dem 3. Jahrhundert! – trifft für sich eine Entscheidung – ohne ihren Vater. Sie will zu Gott gehören und lässt sich taufen. Und bleibt auch dabei, selbst als der Vater sie massiv unter Druck setzt. Sie will sich diese durch ihren Glauben neu erworbene innere Freiheit nicht nehmen lassen, selbst wenn sie deshalb durch ihren Vater ihrer äußeren Freiheit beraubt wird. Ihr Glaube macht sie selbstbewusst und selbstständig vom Vater.
Der Bruch mit der Tradition
Der Vater hat einen Bräutigam für sie ausgesucht und sie wagt es, die Pläne des Vaters zu durchkreuzen. Noch heute werden Kinder sich in der Türkei durch ihre Eltern versprochen und müssen sich später dann heiraten, ohne sich überhaupt zu kennen. Manche junge Frau muss dazu sogar gegen ihren Willen aus Deutschland in ihre Heimat zurückkehren, ein wichtiges Thema für die Menschenrechtsdiskussion im Rahmen des türkischen EU-Aufnahmeantrags. Barbara jedenfalls widersetzt sich ihrem Vater, eine für diese Zeit absolut außergewöhnliche Situation.
Ein gebrochener Vater
Weil seine Tochter sich als zu stark für ihn erweist, zeigt er sie bei den Christenverfolgern an und trägt so letztlich die Verantwortung für ihre Hinrichtung. Die Durchsetzung einer umstrittenen Familientradition war ihm wichtiger als die Liebe zu seiner Tochter und deren Leben. Und zum Schluss steht er da als einer, der alles, was seinem Leben noch einen Sinn gegeben hat, durch eigenes Verschulden verloren hat.
Eine „predigttexttaugliche“ Heiligenlegende?
Ja, weil sie uns erkennen lässt, wie sehr der Glaube unsere Sichtweise, unsere Wertvorstellungen, unsere Lebenseinstellung und –orientierung verändern kann, so dass wir in der Folge davon bewusster und befreiter unser Leben selbst gestalten und selbst verantworten können.
Weil sie deutlich macht, dass der Glaube uns Menschen mehr Sicherheit zu geben vermag dadurch, dass er uns daran erinnert, dass wir vor Gott einen Wert besitzen, den uns nichts und niemand wegnehmen kann.
Und weil sie uns daran erinnert, dass kein Mensch, keine Regierung und auch nicht die Kirche das Recht haben, die Herrschaft über unser Leben Gott aus der Hand zu nehmen und ihnen Widerstand zu leisten getreu dem Motto: „Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
Und weil sie uns letztlich zeigt, dass ein Mensch, der seinen Willen über Gottes Willen stellt, sehr schnell nur noch sich selbst sieht und nicht mehr den Menschen, den er lieb hat. Dass er so letzlich in die Gefahr gerät zu verlieren, was er sich eigentlich hat bewahren wollen, und dann letztlich mit leeren Händen da steht.
Und weil sie zeigt, dass bei den Menschen, die es wollen und zulassen, dass Gott mit ihnen im Bunde ist, Knospen aufspringen und neues, ungeahntes Leben in Fülle möglich wird.