Ob man sich an den Tod gewöhnen kann?
Ob man sich an den Tod gewöhnen kann?
Ich glaube nicht. Zumindest habe ich es nie versucht, obwohl ich über 40 Jahren allein schon beruflich mit ihm zu tun habe, – oder besser mit Menschen, die mit ihm zu tun haben.
Mit Menschen, die an sich selbst erleben, wie etwas in ihnen langsam zum Erlöschen kommt, genauso wie mit denen, die eben diesen Menschen nahe sind und sie nicht verlieren wollen.
Mit solchen, die alle Mühe daran setzen, den Tod aus ihrem Leben zu vertreiben, obwohl er ihnen bereits die Hand gereicht hat.
Oder mit solchen, die ohne den Kampf um das Leben aufzugeben, ihn anzunehmen lernen.
Mit solchen, die meinen, ihn totschweigen zu können.
Oder mit solchen, bei denen er zur Sprache kommt – oft sogar wortlos.
Mit solchen, die nicht loslassen können, weil sie keine Hoffnung haben.
Oder mit solchen, die sich gehen lassen können in dem Vertrauen, dass es für jedes Leben ein Ankommen gibt – auch nach dem Tod.
Mit solchen, die dem ihren Tod überlassen, dem sie ihr Leben anvertraut haben.
Oder mit solchen, die offen sind für alles, selbst für das Nichts.
Mit Menschen zu tun zu haben, die mit dem Tod zu tun haben, ist bedrückend und beglückend zugleich. Weil es wohl keine tiefere, tiefergehende Begegnung gibt als gerade die, die sich in der Tiefe menschlicher Existenz ereignet.
Genau diese Erfahrung nimmt sich eine Gesellschaft, in der der Tod ausgelagert, verdrängt, bis ins Letzte hinausgezögert seinen Lebensbereich verloren hat.
Eine Gesellschaft ohne Tiefe – sie wird unversehens zu einer oberflächlichen Gesellschaft, die nur noch an Vergänglichem hängt und deshalb umso weniger mit dem Tod, dem Ende alles Vergänglichen, umgehen und leben kann.
Nein, auch um unserer eigenen unvergänglichen Lebensqualität wegen:
Der Tod gehört zum Leben, genauso, wie das Leben zum Tod gehört, ob das dem Tod nun so paßt oder nicht.
Ob man sich an den Tod gewöhnen kann?
Ich denke nicht. Aber man kann mit ihm reden, damit uns kein Fremder berührt, wenn er uns an der Hand nimmt, um uns über den Fluss zu bringen.
Wie bei Janosch bei seiner Erzählung vom Gänsehirt:
Der Tod und der Gänsehirt
Einmal kam der Tod über den Fluss, wo die Welt beginnt. Dort lebte ein armer Hirt, der eine Herde weißer Gänse hütete.
„Du weißt, wer ich bin, Kamerad?“, fragte der Tod.
„Ich weiß, du bist der Tod. Ich habe dich oft auf der anderen Seite hinter dem Fluss gesehen.“
„Du weißt, dass ich hier bin, um dich zu holen und dich mitzunehmen auf die andere Seite des Flusses.“
„Ich weiß. Aber das wird noch lange sein.“
„Oder wird nicht lange sein. Sag, fürchtest du dich nicht?“
„Nein“, sagte der Hirt. „Ich habe immer über den Fluss geschaut, seit ich hier bin, ich weiß, wie es dort ist.“
„Gibt es nichts, was du mitnehmen möchtest?“
„Nichts, denn ich habe nichts.“
„Nichts, worauf du hier noch wartest?“
„Nichts, denn ich warte auf nichts.“
„Dann werde ich jetzt weitergehen und dich auf dem Rückweg holen. Brauchst du noch etwas, wünschst du dir noch was?“
„Brauche nichts, hab‘ alles“, sagte der Hirt. „Ich habe eine Hose und ein Hemd und ein Paar Winterschuhe und eine Mütze. Ich kann Flöte spielen, das macht lustig. Meine Gänse verstehen nicht viel von Musik.“
Als dann der Tod nach langer Zeit wiederkam, gingen viele hinter ihm her, die er mitgebracht hatte, um sie über den Fluss zu führen.
Da war ein Reicher dabei, ein Geizhals, der zeit seines Lebens wertvolles und wertloses Zeug an sich gerafft hatte: Klamotten, auch Gold und Aktien und fünf Häuser mit etlichen Etagen. Der Mann jammerte und zeterte: „Noch fünf Jahre, nur noch fünf Jahre hätte ich gebraucht, und ich hätte noch fünf Häuser mehr gehabt. So ein Unglück, so ein Unglück, verfluchtes!“ Das war schlimm für ihn.
Ein Rennfahrer war unter ihnen, der Zeit seines Lebens trainiert hatte, um den großen Preis zu gewinnen. Fünf Minuten hätte er noch gebraucht bis zum Sieg. Da erwischte ihn der Tod.
Ein Berühmter war dabei, dem ein Orden gefehlt hatte, nur ein einziger Orden, für den er Jahre aufgewendet hatte, da holte ihn der Bruder Tod. Das war schlimm für ihn.
Dann war da ein junger Mann, der hatte an seiner Braut gehangen, denn sie waren ein Liebespaar gewesen, und keiner konnte ohne den anderen leben.
Ein schönes Fräulein war dabei mit langen Haaren.
Und viele Reiche, die jetzt nichts mehr besaßen, und noch mehr Arme, die jetzt auch nicht das besaßen, was sie gerne hätten haben wollen.
Ein alter Mann war freiwillig mitgegangen. Aber auch er war nicht froh, denn siebzig Jahre waren vergangen, ohne dass er das bekommen hatte, was er hatte haben wollen.
Schlimm für sie alle.
Als sie an den Fluss kamen, wo die Welt aufhört, saß dort der Hirt. Und als der Tod ihm die Hand auf die Schulter legte, stand er auf, ging mit über den Fluss, als wäre nichts, und die andere Seite hinter dem Fluss war ihm nicht fremd. Er hatte Zeit genug gehabt, hinüberzuschauen, er kannte sich hier aus, und die Töne waren noch da, die er immer auf der Flöte gespielt hatte:
Er war sehr fröhlich.
Das war schön für ihn.
Was mit den Gänsen geschah?
Ein neuer Hirte kam.
aus Janosch bei F.Kett & Mitarbeiter, Jahrbuch 2011, S. 47-53
Sehr eindrücklich die Betrachtung über den Tod. Und die Geschichte berührt. Wir könne lernen miit dem Tod zu leben,d.h. ihn einnbeziehen in unseren Alltag. Dann werden wir uns aufs Sterben vorbereiten können und unsere Mitmenschen auch!