Immer weniger von denen, die damals am 10. November 1938 die Emmendinger Synagoge geschändet und zerstört oder „nur“ als Augenzeugen innerlich weniger oder auch mehr daran beteiligt dabeigestanden haben, sind mittlerweile noch am Leben. Und aus biologischen Gründen wird die Zahl dieser Menschen in den kommenden Jahren zunehmend kleiner werden.
Das gilt so nicht nur für Emmendingen: Nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter werden bald nur noch Geschichte sein.
Gerade deshalb ist unser jährliches Erinnern an diese, die menschlichen und religiösen Gefühle zutiefst verletzende Untat und die ihr zugrunde liegende, für Millionen unserer Mitmenschen in der Folgezeit Tod bringende Ideologie der Herrenmenschen unendlich wichtig.
Mit diesem Erinnern ehren wir das Andenken all der damals in Deutschland und ganz Europa verfolgten Menschen, die oft grausam gequält in den KZs der Nazis oder bereits auf dem Weg dahin ermordet, oder die, falls sie überlebten, dadurch für ihr ganzes weiteres Leben schwer traumatisiert worden sind.
Mit diesem Erinnern halten wir die Aufmerksamkeit unserer Nachkriegs-Generationen und der uns folgenden Generationen wach, diese, Wachheit, die wir brauchen, um derartige Entwicklungen, wie sie damals möglich waren, früher wahrnehmen und dann eben auch im Keim ersticken zu können.
Und noch eines: Mit diesem Erinnern machen wir die Hoffnung all derer zunichte, die nach dem Krieg meinten oder die auch bis heute noch meinen, die Zeit arbeite für sie. Irgendwann werde schon wieder Gras über das Ganze gewachsen sein. Machen wir die Hoffnung all derjenigen zunichte, die auf die Schwäche oder, ich könnte auch sagen, auf die Fähigkeit von uns Menschen setzen, zu vergessen.
Wir wollen, wir dürfen nicht vergessen, was damals geschehen ist, um unserer Zukunft willen, damit sich in ihr so etwas nie mehr wiederholen kann.
Draußen auf dem Schlossplatz wurde 1988 oberhalb des Brunnens eine Gedenkplatte angebracht, die darüber Auskunft gibt, wer am 10. November 1938 die Emmendinger Synagoge geschändet und zerstört hat. Da heißt es nicht wie sonst vielfach bei deutschen Gedenkstätten „von Schergen des Nazi-Regimes“ oder so ähnlich, sondern „von Emmendinger Bürgern“. Es mögen vielleicht auch andere dabei gewesen sein. Aber gerade aufgrund von mehreren, von mir unabhängig voneinander gehörten Augenzeugenberichten ist es mir völlig unverständlich, weshalb es in diesem Zusammenhang bezüglich des gewählten Wortlauts „von Emmendinger Bürgern“ massive verbale Auseinandersetzungen gegeben hat, auf deren Ausläufer ich zum Teil noch heute stoße.
Ich mache keinen Hehl daraus: Ich bin froh darüber, Pfarrer gewesen zu sein in einer Stadt, deren Bürgerschaft den Mut hat, sich in derartiger Weise ihrer historischen Verantwortung zu stellen und zu ihrer Stadtgeschichte zu stehen, gerade auch dort, wo sie alles andere als rühmlich war. Deshalb weise ich, so oft es mir möglich ist, sehr bewusst auf diese Gedenktafel hin.
Der Text dieser Predigt ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,10ff) . Ich möchte dieses Gleichnis heute einmal in diesen eben genannten Zusammenhang hinein auslegen.
Jesus erzählt in ihm gleichnishaft von dem Menschen, der von Gott weggeht, um ein Leben in Unabhängigkeit von ihm zu führen. Gott soll ihm nicht mehr dazwischenreden können. „Ich weiß schon selber, was für mich richtig und was für mich gut ist.“ Er macht sich von Gott selbstständig und lebt gemäß seiner eigenen Bedürfnisse nach Regeln und Gesetzen, die er sich selbst gegeben hat, weil er meint, so besser und schneller zum Erfolg zu kommen. Doch statt des erhofften Erfolges scheitert er erbärmlich.
Schnell lassen sich da Parallelen zum 3. Reich erkennen.
Zumindest die Bekennende Kirche oder ähnlich kritisch denkende kirchlichen Kreise oder Einzelpersonen beider Konfessionen haben mutig darauf hingewiesen. Das, was sich da ereignet, ist ein Weg, der von Gott weg, der in die Irre führt. Ein Weg, auf dem der Wille Gottes, wie er in der Bibel zu finden ist, außer Kraft gesetzt wird, auf dem Gott nur noch eine Rolle spielt, insofern mit ihm der Führer und seine Ideologie legitimiert werden können.
Für unendlich viele Menschen, die sich so um des Führers willen von Gott und seinen Geboten abwenden, wird der Nationalsozialismus zu einer Ersatzreligion, der sie mehr und mehr völlig hörig sind.
Der Sohn, der von seinem Vater weggeht, dessen Einflussbereich verlässt. Der eigene Wege geht.
Jesus macht diesem Sohn im Gleichnis deshalb übrigens keinen Vorwurf. Es ist dem Menschen möglich, einen Weg ohne Gott zu wählen. Aber der Weg zumindest dieses Sohnes, so erzählt er weiter, führt abwärts, so lange, bis er ganz unten ankommt, am Ende. Und dort er stellt fest, dass er vollkommen versagt hat, obwohl er doch das Beste für sich gewollt hatte.
Wie viele Gefolgsleute des Nationalsozialismus mögen spätestens am Ende des Krieges diese erschreckende Erfahrung gemacht haben, erschreckend vor allem auch dann, wenn ihnen auf einmal bewusst wurde, zu welch furchtbarem Denken und Handeln sie mittlerweile auf diesem Weg fähig geworden waren. Wie sollten sie nun weiterleben, wie sollten sie unter diesem Vorzeichen wieder zu einem einigermaßen normalen Leben zurückfinden können?
Die entscheidende Veränderung beim Sohn im Gleichnis geschieht in dem Moment, in dem er seine beschämende Situation nicht nur wahrnimmt, sondern in dem er sich ihr stellt, indem er sich sein Versagen eingesteht.
„Ich bin den falschen Weg gegangen. Ich will umkehren, zurück zum Vater. Vielleicht nimmt er mich wieder auf.“
Ich will umkehren! War das 1945 eine Option für die der nationalsozialistischen Ersatzreligion Verfallenen? Macht man sich es mit diesem verständlichen Wunsch nicht etwas zu einfach?
Zur Umkehr im Gleichnis gehören mehrere Voraussetzungen: Die Wahrnehmung, dass der eigene Lebensentwurf gescheitert ist. Das Erschrecken über die eigene Persönlichkeits-Entwicklung. Das ehrliche Eingeständnis von Versagen und Schuldig-Geworden-Sein. Die Abkehr von dem Ungeist, von dem man sich jahrelang hatte beherrschen lassen. Und die gelebte, mit Leben erfüllte Bitte um Vergebung, selbst dann, wenn die Opfer einem nicht mehr vergeben können. Und wer das alles ernst genommen hat, hat es sich sicherlich nicht „etwas zu einfach“ gemacht.
Aber es gab wohl auch viele, die anders ihren Weg zurück zur Normalität zu finden versuchten: Indem sie das Geschehene verdrängten; ihre Verantwortung dafür anderen in die Schuhe schoben; Entschuldigungen für ihr Denken und Handeln suchten, statt sich selbst zu entschuldigen; indem sie sich selbst und die Menschen, mit denen sie künftig zusammenlebten, über diese Phase ihres Lebens belogen oder das alles einfach mit Schweigen zudeckten. Menschen, die immer in der Angst leben müssen, dass doch noch einmal etwas rauskommen könnte von ihrem Vorleben. Nur, damit müssen sie selbst zu Recht kommen. Da kann ihnen niemand helfen.
Zurück zum Gleichnis:
Was geschieht nun mit dem Menschen, den sein eigener Weg von Gott weg in die Irre geführt hat, der zu ihm umkehren will mit dem Ansinnen, ihn um Vergebung zu bitten?
Geradezu rührend beschreibt Jesus, wie der Vater seinem zurückkehrenden Sohn entgegeneilt und ihn in den Arm schließt, noch bevor dieser ein Wort der Entschuldigung sagen kann. So verhält sich Gott zu uns, wenn wir zu ihm zurückkehren. Wir sind bei ihm willkommen. Bei ihm sind wir geborgen, auch mit all unserer Schuld. Welch eine befreiende Botschaft für alle, die zu ihm umkehren wollen!