Die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten zu Jesus eine Ehebrecherin, stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: „Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Und du, was sagst du dazu?“ Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, um ihn dann anklagen zu können. Johannes 8,3ff
Eine heikle Situation für Jesus!
Spricht er sich gegen die Steinigung dieser Frau aus, verstößt er gegen das Gesetz des Moses, das „Grundgesetz seines Volkes“ und macht damit sich selbst zugleich strafbar.
Spricht er sich für die Steinigung dieser Frau aus, verstößt er gegen das, was er bisher als neue Botschaft, als Evangelium, gelehrt hat, und verliert damit jegliche Glaubwürdigkeit beim Volk.
Schon lange war es den Schriftgelehrten und Pharisäern ein Dorn im Auge gewesen, wie Jesus sich ihrer Meinung nach in unverantwortlicher Weise über die Gesetze des Mose hinweggesetzt hatte. Als sie ihn kritisiert hatten, weil seine Jünger unterwegs am Sabbat Ähren gerauft hatten, hatte er sich kurzerhand selbst als Herr über den Sabbat bezeichnet. Mehrfach hat er am Sabbat geheilt, obwohl kein akuter Notfall vorgelegen hatte, der ärztliche Tätigkeit am absoluten Ruhetag der Juden gerechtfertig hätte. Auf ihre Einwände hin hatte er doch tatsächlich behauptet, der Mensch wäre nicht um des Sabbat willen da, sondern der Sabbat um des Menschen willen. Also der Mensch wäre Gott letztlich wichtiger als der Sabbat. Was bedeute, die Gesetzte seien um der Menschen willen geschaffen worden und nicht die Menschen um der Gesetze willen. Und was er dann noch zur Reinheitsgesetzgebung von sich gegeben hatte, wo es um rein und unrein, um die koscheren Ernährungsvorschriften geht, war für sie absolut inakzeptabel. So hatte er behauptet: Nicht was in den Menschen hineinkäme, mache ihn unrein, sondern was aus ihm herauskäme – an Gedanken und Worten. Und trotz alledem hatte Jesus dann sogar noch behauptet, er wolle kein Jota – den kleinsten Buchstaben im hebräischen Alphabet – am Gesetz des Moses verändern! Und zugleich hatte er ihnen vorgeworfen, sie würden Gottes Gesetze falsch verstehen und interpretieren, nur dem Wortlaut nach und nicht dem von Gott her ihnen innewohnenden Sinn nach.
Diesmal hatten sie es geschickt eingefädelt. Jetzt musste er Farbe bekennen. Ein Entkommen war nun nicht mehr möglich. Jesus saß in der Zwickmühle.
„Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Und du, was sagst du dazu?“
Gespannt warteten sie auf seine Reaktion. Jetzt wird er sich um Kopf und Kragen reden!
Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Selbst in dieser heiklen Situation lässt sich Jesus nicht aus der Ruhe bringen. Malt mit dem Finger Figuren in den Staub. Und schweigt. Und bringt damit zugleich die Fragenden aus Ruhe. Denn damit konnten sie nun absolut gar nichts anfangen. Zum wiederholten Male hatten sie Jesus in die Enge getrieben – ohne erkennbaren Erfolg. Und plötzlich wird die Situation für sie heikel:
Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: „Wer unter euch ohne Verfehlung gegen Gottes Gebote ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.
Eine überraschende Antwort Jesu! Im Stile eines souveränen Meisters entzieht er sich der verhängnisvollen Alternative von Steinigen oder nicht Steinigen und dreht den Spieß um. Jetzt müssen auf einmal sie Farbe bekennen.
„Wer unter euch ohne Verfehlung gegen Gottes Gebote ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“
Jesus leugnet weder das Steinigungsgebot des Moses noch die Verfehlung dieser Frau. Gleichwohl rettet er ihr auf ungewöhnliche Art und Weise das Leben: Indem er die über sie Richtenden dazu bringt, über sich selbst nachzudenken; sich zu prüfen, wie es denn bei ihnen selbst aussieht mit ihren Verfehlungen Gottes Geboten gegenüber. Und da müssen sie einsehen, dass sie absolut keinen Grund haben, sich über diese Frau zu erheben, sie zu richten als eine, die gegen Gottes Gebot gefehlt hat.
Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, die Ältesten zuerst.
Auch das sollten wir bei aller Polemik gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer aufmerksam wahrnehmen: Sie mögen wohl Gegner Jesu gewesen sein und sie mögen versucht haben, ihn mit ihrer Frage in große Schwierigkeiten zu bringen. Aber dann waren sie doch so fair, Jesu Argumentation zu akzeptieren, auch wenn es für sie eine Niederlage bedeutete.
Schließlich, so hören wir, blieben nur noch Jesus und die Frau, die in der Mitte stand, zurück. Da richtete Jesus sich auf und fragte sie: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand bestraft?“ Sie antwortete: „Niemand, Herr.“ Und Jesus sprach: „So bestrafe ich dich auch nicht; geh hin und verstoße nicht mehr gegen Gottes Gebot.“
Die heikle Situation ist für Jesus bereinigt: „Wenn die dich nicht bestraft haben, dann brauche ich dich auch nicht zu bestrafen. Aber“, so fährt er fort, „verstoße nicht mehr gegen Gottes Gebot!“ Bei manchen Übersetzungen heißt es da „nie mehr!“ Aber gerade die Reaktion der Pharisäer und Schriftgelehrten zeigt deutlich, dass uns Menschen dieses „Verstoßen gegen Gottes Gebote“ das ganze Leben lang begleitet.
Wenn da immer dem Gesetz Genüge getan werden müsste, dann Gnade uns Gott! Und genau das ganz wörtlich genommen, „Gnade – uns – Gott!“ Das war die neue Botschaft Jesu, die damals so umstritten war und zugleich viele Menschen im Volk angesprochen und zum Leben ermutigt hat: Die Botschaft von der Liebe Gottes, die Gnade vor Recht ergehen lässt. Diese Botschaft, die die Menschen im Bereich des Glaubens von der Herrschaft des Gesetzes befreit hat.
Der Apostel Paulus wird dies später einmal so in Worte fassen: „Dass der Mensch gerechtfertigt werde nicht aus den Werken des Gesetzes, – also nicht aufgrund der Erfüllung des göttlichen Gesetzes, vor dem wir immer wieder scheitern werden! – sondern allein aus dem Glauben.“ Wobei dem Glauben innewohnt das Bedürfnis und die Bereitschaft, Gottes Gesetz zu respektieren und umzusetzen, wo immer möglich. Aber eben, gerade weil wir selbst nicht ohne Verfehlungen Gott gegenüber sind, haben wir kein Recht, auf andere ob ihrer Verfehlungen mit dem Finger zu zeigen, abgesehen davon, dass dabei dann drei Fingen immer auch auf uns selbst zeigen.
Jesus macht uns Mut dazu, uns gerade darin miteinander zu solidarisieren, dass wir alle zusammen – wie jene Frau und ihre Kritiker – „Verfehlende“ sind und dass wir alle zusammen der Gnade Gottes bedürfen.
Gerade beim Abendmahl wird diese Solidarität konkret erfahrbar, wenn wir aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommend von ganz unterschiedlicher persönlicher Geschichte geprägt uns treffen um den Tisch des Herrn, um miteinander Brot und Kelch, Zeichen seiner Liebe und Gnade, zu teilen und uns dann abschließend die Hände reichen zum Zeichen der Gemeinschaft und des Friedens, die Gott uns schenkt, all unseren „Verfehlungen“ ihm und einander gegenüber zum Trotz.
„Geh hin und verstoße nicht mehr gegen Gottes Gebot!“
Das gilt auch für uns.
Aber das andere auch, die Zusage Gottes:
„Komm, auch wenn du gegen mein Gebot verstoßen hast. Bei mir bist du immer willkommen.“