Predigt zu Lukas 6, 36-38.41-42 am 4. Sonntag nach Trinitatis
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Diese Perikope ist überschrieben: Von der Stellung zum Nächsten. Oder besser: Von der Einstellung zum Nächsten.
Und bereits in den ersten beiden Sätzen macht Jesus uns deutlich, welche Einstellung zum Nächsten er für uns für hilfreich erachtet „Seid barmherzig!“ und vor welcher Einstellung zum Nächsten er uns warnt „Und richtet nicht!“
Seid barmherzig und richtet nicht!
Eine doppelte Aufforderung, die auch nach 2000 Jahren christlicher Verkündigung in keinster Weise ihre Aktualität verloren hat. Weil es uns oft sehr viel leichter fällt, über unsere Nächsten zu richten, zu Gericht zu sitzen, als ihnen gegenüber barmherzig zu sein.
Gerade in diesen Tagen denke ich zum Beispiel daran, in welch infamer Weise über Bill Gates geredet, oder eigentlich müsste ich sagen, hergezogen wird. Dass er mit seinen Stiftungen in Milliardenhöhe letztlich nur die Weltherrschaft anstrebe, gezielt das Corona-Virus verbreitet habe, um seinen Umsatz zu steigern, ja sogar, dass er das (der!) Böse schlechthin ist. Gewiss mag es auch Dinge geben, die man bei Bill Gates kritisch sehen und deshalb auch kritisieren kann, Was ich so schlimm daran finde, ist die Tatsache, dass diese genannten vernichtenden Urteile über ihn letztlich Behauptungen sind, die gemacht werden, ohne Beweise dafür vorzulegen. Einfach nur so!
Oder ich denke daran, wie über unsere Bundesregierung geschimpft wird im Zusammenhang mit der Corona-Krise und ihrer Bewältigung ohne jegliche Einsicht, dass aufgrund der von ihr getroffenen Maßnahmen unser Land diese Pandemie bisher mit weitem Abstand besser überstanden hat als alle anderen Ländern dieser Erde.
Wie leicht reden wir negativ, geringschätzig, aburteilend über andere, und das vornehmlich dann, wenn sie nicht anwesend sind, also dann, wenn sie sich nicht verteidigen, wenn sie sich nicht dagegen wehren können.
Der Jargon unserer Zeit bezeichnet diese Art des über jemand Redens als „über jemanden Ablästern“. Das garantiert zumindest immer interessanten Gesprächsstoff, führt dann jedoch unversehens dazu, dass über diesen Jemand geurteilt, dass über ihn gerichtet wird, und das zumeist in Form einer Verurteilung.
Warum tut man, oder besser, warum tun wir das eigentlich?
1. Oft geschieht es aus dem einfachen Grund, dass wir uns mit dem, was wir an Negativen über andere wissen oder zu wissen vorgeben, interessant und wichtig machen.
Davon lebt im Übrigen die Boulevardpresse. Und nicht nur sie, sondern leider zunehmend mehr und mehr auch Zeitungen und Zeitschriften, die den Anspruch erheben, seriös zu sein. Und auch so manche Sendung im Fernsehen. Denn so kann man am leichtesten und schnellsten Aufmerksamkeit erregen und höhere Einschaltquoten erzielen.
2. Gleichzeitig können wir so auch zeigen, dass zumindest wir ganz genau wissen, was gut und was böse ist; und vor allem, dass wir sehr genau wissen, wer gut und – vor allem – wer böse ist.
3. Darüber hinaus bietet sich uns so auch die Gelegenheit, den anderen zu zeigen, wie gut wir doch selbst sind und dass wir so etwas wie der oder die von uns Verurteilte niemals sagen oder tun würden.
4. Und nicht zuletzt spielt auch das eine Rolle: Dass wir uns größer machen wollen, indem wir andere durch negatives Reden über sie kleiner machen.
Seid barmherzig und richtet nicht!
Wie das zu verstehen ist, zeigt uns in eindrücklicher Weise ein weiterer für den heutigen Sonntag vorgesehener Predigttext: Die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8, 1 – 11). Da geht es darum, dass Schriftgelehrte und Pharisäer eine Frau zu Jesus brachten, die auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt worden war. Und nun wollten sie Jesu Urteil dazu hören. Ehebruch galt damals als Verbrechen, das nach dem Gesetz des Mose mit dem Tod durch Steinigung zu bestrafen war. Die Situation, in der sich Jesus damit befand, war äußerst prekär. Hätte er der Forderung des Mose zugestimmt, wäre damit seine Verkündigung vom liebenden und vergebungsbereiten Gott widerlegt gewesen. Hätte er aber gesagt, lasst sie laufen, dann hätte man ihn als Gesetzesbrecher des als göttlich geltenden Gesetzes des Mose bis sogar zum Tode verurteilen können.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten zumindest hatten diese Frau schon längst nach gängigem Recht verurteilt: streng gesetzlich, aber eben unbarmherzig, gnadenlos und lieblos, ohne zu fragen, wie es überhaupt dazu gekommen war. Und zugleich missbrauchten sie auch noch dazu diese tief betroffene, bedauernswerte, um ihr Leben bangende Frau, um Jesus zu einem Argumentationsfehler zu verleiten.
Was wird Jesus nun tun? Wird er seinen Grundsatz „Seid barmherzig und richtet nicht!“ durchhalten können?
Und dann seine mit Ungeduld erwartete Antwort: „Wer unter euch ohne Verfehlung ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“
Das meint konkret: „Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Darum: Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.“
Folgerichtig: „Wer unter euch ohne Verfehlung ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“
Niemand wagt es, kleinlaut schleichen alle nacheinander davon. Daraufhin sagte Jesus zur Frau: „So verurteile ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Eine äußerst knifflige, bedrohliche Situation – von Jesus genial gelöst – mit Hilfe von Barmherzigkeit.
Trotzdem richten wir Menschen auch heute noch durchaus gerne. Oft tun wir es in ähnlicher Weise wie die Schriftgelehrten damals: selbstgerecht, undifferenziert, einseitig, parteiisch, oder anders gesehen unbarmherzig, gnadenlos und lieblos.
Jesus warnt uns vor solchem Richten mit allem Nachdruck, indem er uns die Augen für uns selbst öffnet. Unser Blick ist unheimlich scharf, was andere betrifft. Wenn es um ihre Fehler und Schwächen geht. Wenn es aber um uns selbst geht, sind wir oft unheimlich großzügig und nachsichtig; können wir alles erklären und entschuldigen und verharmlosend darüber hinwegschauen. Mit den Worten Jesu gesprochen: Den kleinen Splitter im Auge des anderen sehen wir sofort, den Balken im eigenen Auge jedoch nehmen wir nicht wahr. Und er erinnert uns an die Eigendynamik des Richtens. „Denkt daran: Mit dem Maß, mit dem ihr andere messt, werden andere euch wiederum messen. Deshalb: Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.“
Zugleich öffnet Jesus uns auch den Blick für den Nächsten, indem er uns erkennen lässt: Den anderen zu richten ist ein Zeichen von Lieblosigkeit, weil wir uns so gar nicht bemühen, ihn zu verstehen, ihm zu helfen, weil wir uns so nicht neben ihn stellen, sondern über ihn.
Und Jesus öffnet uns auch den Blick für Gott.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Er erinnert uns daran, dass es nicht der richtende Gott ist, dem wir in unserem Leben immer wieder begegnen, sondern der barmherzige, der schon sieht, wo wir ihn und seinen Willen verfehlen, der uns aber gleichwohl zugesagt hat, dass er barmherzig darüber hinwegblicken blicken wird auf uns, aus Liebe; dass er seinen liebevollen Blick nicht von uns abwenden wird, selbst wenn wir es verdient hätten, gerichtet zu werden.
Der uns dadurch dazu ermutigt, immer neu um eine liebevolle Einstellung zu unseren Nächsten zu ringen mit der Aufforderung:
„Seid barmherzig, wie Gott für euch barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“