Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Römer 15,7
Andacht im Pfarrkonvent zur Jahreslosung 2015
Ich weiß nicht mehr, wann sie das erste Mal bei uns hier draußen vor dem Gemeindehaus stand: Eine ältere Dame so um die 75 Jahre, mit Brille, Mantel, Hut und einer Handtasche, die sie mit beiden Händen festhielt. Es sah so aus, als ob sie auf jemanden warten würde. Ich habe sie dann angesprochen, ob sie jemand suchen würde. Sie schaute mich nur erstaunt an und fragte mich dann unvermittelt: „Werde ich hier angenommen?“
Ich versuchte, herauszubekommen, was oder wen sie hier zu finden hoffte, vielleicht einen meiner Vorgänger. Aber darauf erhielt ich keine Antwort. „Aber ich werde hier doch angenommen, oder?“ fragte sie immer wieder mit ängstlicher Stimme. „Selbstverständlich,“ versuchte ich sie zu beruhigen, ohne letztlich zu verstehen, was sie eigentlich von mir erwartete. Ich nahm sie dann mit ins Pfarrhaus, wo ich ihr eine Tasse Tee anbot. Offensichtlich war sie dement, weshalb ich mich bemühte, von ihr zu herauszubekommen, wo sie wohnt, um dann ihre Angehörigen zu informieren. Mit der Zeit erfuhr ich, dass sie wohl in Bad Krozingen in einem Altersheim wohnte und von dort mit dem Zug nach Emmendingen gefahren war. Weshalb sie vom Bahnhof zu unserem Gemeindehaus gelaufen war, konnte sie mir nicht sagen, nur, dass sie früher einmal Religionslehrerin gewesen war. Schließlich bekam ich telefonischen Kontakt mit dem richtigen Altersheim und die Information, dass sie öfter mit dem Zug fahren würde und das auch dürfe, weil sie immer wieder heimkäme. Ich bräuchte mir um sie keine Sorgen zu machen. Sie fände schon alleine zum Bahnhof.
Ein paar Wochen später stand sie wieder am Gemeindehaus und in unregelmäßigen Abständen immer wieder, bis sie dann irgendwann nicht mehr erschien. Und jedes Mal, wenn sie kam, fragte sie mich: „Werde ich hier angenommen?“ Und wenn ich dann antwortete: „Ja, das werden Sie“ dann war sie beruhigt, blieb noch eine Weile stehen und ging dann wieder zum Bahnhof. Ich hatte das Gefühl, dass sie nur deshalb nach Emmendingen fuhr, um sich dessen zu vergewissern, dass sie hier „angenommen“ wird. Der Wunsch nach dem Gefühl und der Zusage, angenommen zu sein, war ganz offensichtlich etwas so wichtiges für sie, dass es ganz tief in ihrer Erinnerung verwurzelt und für sie trotz ihrer Demenz nach wie vor präsent war.
Eigentlich keine überraschende Feststellung, weil dieses erwünschte Gefühl von Angenommensein eine unserer frühsten und wichtigsten Kindheitserfahrung ist, die wiederum in einem ganz engen Zusammenhang steht mit dem Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit. Wenn wir uns dies bewusst machen und uns zugleich daran erinnern, dass das Gegenteil von Annahme „Ablehnung“ ist, hören wir unsere neue Jahreslosung vielleicht noch einmal ganz anders.
Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.
Dazu noch ein Gedanke:
In dem griechischen Wort für „annehmen“ steckt auch die Bedeutung „aufnehmen, Heimat bieten“. Und da wird es für uns sehr schnell konkret, wenn wir an die vielen Menschen denken, die in diesen Tagen bei uns „Aufnahme“ und „Heimat“ suchen, weil sie sich auf der Flucht befinden. Dies wird in diesem Jahr eines der bestimmenden Themen für unsere bundesdeutsche und europäische Gesellschaft sein und die massive Zunahme von Pegida in unserem Lande macht unmissverständlich deutlich, dass wir hier mutiger Farbe bekennen müssen gegen organisierte Ablehnung, Ausgrenzung und Menschenverachtung. Und dass wir uns vor allem intensiver Gedanken darüber machen müssen, wie wir als Einzelne und als Gemeinden, als Gesellschaft hier aktiv Verantwortung übernehmen können, damit unsere Bekenntnisse zur „Annahme“ in der Nachfolge Jesu Christi nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben.