Ein Märchen, vor allem für Erwachsene
Sie waren schon ein ungleiches Paar, das Krokodil und die Wasserschlange. Und doch sah man sie dauernd beieinander. Wie sie sich wohl kennengelernt hatten, vermochte keiner so richtig zu sagen; vielleicht wussten sie es nicht einmal selbst mehr. Aber das war auch gar nicht so wichtig.
Wenn sie nebeneinanderher schwammen, sagte die Wasserschlange immer:
„Wie schön du schwimmen kannst, Krokodil! Ich könnte dir stundenlang zuschauen“,
und schaute ihm stundenlang zu.
Und das Krokodil bemühte sich, immer noch schöner zu schwimmen, um der Wasserschlange eine Freude zu machen.
Es konnte auch Steine vom Grund des Wassers in seinem großen, langen Maul heraufholen und mit einem gewaltigen Ruck weit über das Ufer hinwegschleudern. Das gelang ihm wohl nicht immer, aber wenn es ihm gelang, rief die Wasserschlange voll Bewunderung:
„Wie stark du bist, Krokodil! Das könnte ich nie!“
Und das Krokodil versuchte sich an immer größeren Steinen, um die Wasserschlange noch mehr zu beeindrucken.
Wenn sie dann nebeneinander im Ufersand lagen, um sich auszuruhen und sich von den Strahlen der Sonne verwöhnen zu lassen, blickte die Wasserschlange immer wieder zum Krokodil und sagte:
„Was für eine schöne Haut du hast, Krokodil. Kein anderes Tier hat so eine schöne Haut wie du.“
Und das Krokodil tat alles dafür, dass seine Haut sauber und gepflegt aussah, weil es der Wasserschlange gefallen wollte.
Das ging so eine lange Zeit und sie waren glücklich miteinander.
Aber irgendwann einmal fielen dem Krokodil keine neuen Schwimmkunststücke mehr ein. Und wenn es ein altes wiederholte, sagte die Wasserschlange:
„Das kenne ich schon,“
und wandte sich gelangweilt ab.
Auch die Steine flogen nicht so oft auf das Ufer, weil sie mittlerweile so schwer geworden waren, dass sie das Krokodil kaum noch vom Grund an die Wasseroberfläche bringen konnte. Und versuchte es sich an kleineren, sagte die Wasserschlange nur noch ein kurzes
„Nichts Neues!“
und schwamm desinteressiert davon.
Über seine Haut hatte das Krokodil schon länger nichts Positives mehr gehört, so sehr hatte sich die Wasserschlange mittlerweile an ihren Anblick gewöhnt.
Eines Tages schwamm durch ihr Revier eine Wasserschildkröte. Sie wäre dem Krokodil nicht einmal aufgefallen, wenn nicht die Wasserschlange plötzlich gesagt hätte:
„Schau mal, wie schön die schwimmen kann!“
Nachdem es der Wasserschildkröte eine Weile zugeschaut hatte, dachte das Krokodil bei sich:
„Eigentlich sieht das doch recht plump und unbeholfen aus, wie die da durch das Wasser segelt. Da schwimme ich jedenfalls schöner.“
Es schwamm einige Züge neben der Wasserschildkröte her, drehte sich spielerisch leicht um die eigene Achse, machte einige Wassersaltos vorwärts und ließ sich dann elegant treiben, unterstützt lediglich durch einige graziöse Schwanzschläge.
Aber die Wasserschlange hatte nur Augen für die Wasserschildkröte. Und als diese ihren schweren Körper das Ufer hinaufwuchtete, sprach sie voller Bewunderung zum Krokodil:
„Schau doch, wie stark sie ist!“
„Mag schon sein,“ dachte das Krokodil, tauchte bis auf den Grund, holte einen besonders großen Stein herauf und schleuderte ihn bis weit auf das Ufer.
Stolz über diese Leistung blickte es zur Wasserschlange hinüber; aber diese hatte das Ganze gar nicht mitbekommen, so sehr galt ihre volle Aufmerksamkeit der Wasserschildkröte, die laut prustend langsam, Schritt für Schritt, ihren schwerfälligen Körper voran bewegte. Und als sie endlich erschöpft am Ufer liegenblieb, und die Sonne ihren Panzer beschien, rief die Wasserschlange voller Entzücken:
„Sieh doch, Krokodil, wie schön sie ist! Wie herrlich ihr Panzer in der Sonne glänzt.“
Das Krokodil legte sich ebenfalls vor der Wasserschlange in den Sand und versuchte, besonders schön auszusehen, aber die Wasserschlange würdigte sie keines Blickes, sondern schaute nur wie gebannt auf die Wasserschildkröte.
Da wandte sich das Krokodil traurig ab.
Die Wasserschlange jedoch schlängelte sich ganz langsam auf die Schildkröte zu und bemühte sich, deren Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als ihr das schließlich gelungen war, sagte sie zu ihr:
„Wie schön du schwimmen kannst und wie stark du bist. Und außerdem: Solch einen schönen Panzer habe ich noch nie gesehen.“
Die Schildkröte war zunächst ein wenig verstört. So etwas hatte noch keiner zu ihr gesagt! Im Gegenteil: Immer hatte sie zu hören bekommen, ihr Schwimmstil sei unzulänglich und an Land wirke sie plump und unbeweglich. Lediglich das Urteil der Wasserschlange über ihren Panzer war ihr nicht so fremd, denn diesen hielt sie selbst für auffallend schön, ohne sich jedoch seiner Wirkung auf andere bewusst zu sein.
Es tat ihr gut, solches über sich zu hören. Und so beschloss sie, öfters hier an Land zu gehen, wo man sie so ungewohnt freundlich in Empfang genommen hatte.
Nach einer kurzen Unterhaltung sagte sie der Wasserschlange, dass sie gedenke, bald einmal wieder hierher zu kommen und dass sie sich dann freuen würde, die Wasserschlange wieder zu treffen. Daraufhin schwamm sie fröhlichen Panzers davon.
Beeindruckt von dieser Begegnung beschloss die Wasserschlange, gleich am nächsten Morgen hierher zurückzukommen, um auf die Wasserschildkröte zu warten.
Kaum war sie tags darauf aufgewacht, schlängelte sie sich voll Erwartung ans Ufer, um rechtzeitig da zu sein, wenn die Schildkröte aus dem Wasser steigen würde.
Sie wartete bis zum Abend, aber von der Schildkröte war nichts zu sehen. Lediglich das Krokodil sah sie einige Male traurig über das Wasser herüberblicken.
Auch am nächsten und übernächsten Tag wartete sie vergeblich.
Endlich, am dritten Tag, es war schon später Nachmittag, tauchte die Schildkröte aus dem Wasser auf, aber nur, um einige belanglose Worte mit ihr zu wechseln; dann verschwand sie wieder. Aber das genügte der Wasserschlange, denn diese kurze Begegnung gab ihr die Bestätigung, nicht umsonst gewartet zu haben. Fröhlich ging sie an diesem Abend nach Hause.
Das ging so eine ganze Zeit. Viele Tage verbrachte die Wasserschlange mit Warten, und oft wurde dieses Warten nur durch wenige Worte mit der Schildkröte belohnt. Und wenn die Schildkröte nicht da war, stellte sie sich in Gedanken vor, wie diese schwamm oder voller Kraft ihren Körper ans Ufer wuchtete. Und auch wenn sie dann den schönen Panzer nicht zu sehen bekam, so gab es doch vieles in ihrer Umgebung, was sie an dessen Farben und Glanz erinnerte.
Nicht, dass sie in dieser Zeit nichts anderes getan hätte als zu warten; aber nichts war ihr so lieb und so wichtig wie das Warten.
Sie unterhielt sich auch weiterhin mit dem Krokodil, wenn es bei ihr vorbeischaute, aber sie schenkte letztlich ihm, seiner Kraft und seiner schönen Haut kaum noch Aufmerksamkeit. Und sie hatte damit sogar nicht einmal Unrecht. Denn das Krokodil war mittlerweile so mutlos und traurig geworden, dass es lieber nur so herumlag als zu schwimmen; Steine warf es kaum noch ans Ufer und seine Haut war nicht mehr so rein und gepflegt wie früher.
Die Schildkröte aber wurde von Mal zu Mal selbstbewusster. Sie ließ sich mehr und mehr von den Wellen treiben, was der Wasserschlange, wie sie wusste, besonders gut gefiel. Sie keuchte immer noch mehr, wenn sie zum Ufer heraufkroch, um ihre Kraftanstrengung noch erkennbarer zu machen. Und mit der Zeit wusste sie auch, wie sie sich in die Sonne zu legen hatte, damit ihr Panzer besonders vorteilhaft glänzte.
Wenn sie dem Krokodil begegnete, blickte sie es mitleidig, zugleich aber doch auch triumphierend an.
Wie die Welt sich ändern kann!
Eines Tages nahm das Krokodil all seinen Mut zusammen und ging zu dem Platz, an dem die Wasserschlange üblicherweise die Schildkröte erwartete. Diese war schon wieder einige Tage nicht gekommen, weshalb sich die Wasserschlange offensichtlich nicht gut fühlte. Trotzdem hörte sie dem Krokodil zu, als es zu ihr sagte:
„Wir kennen uns nun schon eine lange Zeit. Viel Schönes haben wir miteinander erlebt. Jetzt ist alles ganz anders geworden. Wir sprechen kaum noch richtig miteinander. Du lebst dein eigenes Leben, das ganz ausgefüllt ist mit Warten. Auf wen du wartest, das weißt du. Aber weißt du auch, worauf du wartest?
Ich bin immer da gewesen, aber das war für dich auf einmal nicht mehr so wichtig. Ich habe dich immer beobachtet, jeden Tag. Wenn es dir schlecht ging, dann ging es mir auch schlecht. Wenn es dir gut ging, dann ging es mir erst recht schlecht. Trotzdem bin ich Tag für Tag am Ufer entlanggeschwommen, um dir nahe zu sein. Ich weiß, du hast das oft nicht einmal bemerkt, so sehr warst du ins Warten und Träumen vertieft.
Vielleicht hätten dich meine Schwimmkunststücke oder einige Steinwürfe auf mich aufmerksam machen können. Oder der Glanz meiner Haut? Nur das wollte ich nicht. Das alles ist für mich nicht mehr so wichtig. Nur noch das eine: Lass mich wenigstens die Zeit des Wartens neben dir verbringen und nicht draußen im Wasser, fern ab von dir. Ich will nicht mehr deine Bewunderung. Ich will nur noch deine Nähe. Ich werde dann schon gehen, wenn ……!“
Bei diesen Worten stockte das Krokodil, denn das war schon mehr, als es hatte sagen wollen.
Lange Zeit schwiegen beide und schauten vor sich in den Sand, der eigentlich gar nicht so interessant war, und warteten, warteten, warteten, bis ……..
Sie waren schon ein ungleiches Paar, das Krokodil und die Wasserschlange. Und doch sah man sie dauernd beieinander. Wie sie sich wohl kennengelernt hatten, vermochte keiner so richtig zu sagen; vielleicht wussten sie es nicht einmal selbst mehr. Aber das war auch gar nicht so wichtig.
Text Georg Metzger
Dieses Märchen habe ich im Jahre 1986 geschrieben, als ich mit meiner Familie einige Monate in San José/Costa Rica lebte, um vorbereitend auf meinen Dienst und unsere Zeit in Caracas/Venezuela Spanisch zu lernen. Es geriet bei mir jedoch vollkommen in Vergessenheit. Als ich vor Kurzem meinen Bücherschrank neu ordnete, entdeckte ich u.a. mein Spanischnotizbuch von damals. Ich blätterte in ihm und fand überrascht ganz hinten drinnen dieses „vergessene“ Märchen.